Hübsch herausgeputzt und frisch zurechtgemacht nach der Verleihung des Nobelpreises präsentiert der Kampa-Verlag einige ausgewählte Werke aus der Feder der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk, um dem neu erwachten Interesse der Leser entgegen zu kommen. „Taghaus, Nachthaus“, der autobiografisch anmutende Roman, der das Leben der Ich-Erzählerin in einem kleinen Bergdorf bei Nowa Ruda (der deutsche Name lautete „Neurode“) inmitten des schlesischen Riesengebirges beschreibt, gehört zu den Romanen in dieser neuen Reihe.
Die Erzählerin zieht mit ihrem Mann in ein altes Häuschen, durch dessen Keller seit jeher ein Bach rinnt, und beschreibt in kleinen Episoden, wie sie sich ihre neue Welt erschließt, indem sie ihre Umgebung und Nachbarn kennenlernt. Eine Protagonistin ist die alte Nachbarin Marta, die wunderbar Geschichten erzählen kann, aber merkwürdig wenig über ihre eigene Vergangenheit enthüllt. Auch ein einsam lebender Säufer, der Selbstmord begeht und dann seinem Nachbarn als Geist erscheint, ebenso wie ein honiggelber Pilz namens Flammulina, der im Winter wächst und daher nie seine im Herbst über der Erde auftauchenden Pilz-Artgenossen kennenlernen kann, bekommen kurzfristige Hauptrollen in Olga Tokarczuks Roman.
Die vielen Aspekte der neuen Lebenswelt ihrer Ich-Erzählerin verwebt Olga Tokarczuk zu einem farbenreichen Gesamtwerk, sie sammelt dazu laufend neue Geschichten – wie die der Nonne, die lieber einen wallenden Bart erbittet als eine Heirat einzugehen, zu der sie ihr Vater zwingen will – und erzählt die Fortsetzungen bereits begonnener Episoden, die sie weiter in ihr Gesamtwerk einwebt wie eine Farbe, die für den Stoff wieder gebraucht wird. So entsteht das Bild eines kleinen Ortes im Riesengebirge, unpolitisch und ohne die Schlesienromantik, die viele einst vertriebene oder geflohene Deutsche, für die Schlesien auf ewig das Land ihrer Kindheit ist, wie einen Schatz in sich tragen und oft an die nächsten Generationen weitergeben haben. Doch die von der Autorin gewählten kurzen Abschnitte mit wechselnden Hauptfiguren entsprechen der wechselvollen Geschichte dieses Landstrichs, der im Laufe seiner Geschichte schon diversen Völkern – Tschechen, Polen, Deutschen, Bewohnern von Österreich-Ungarn – eine Heimat war, ob vereint oder zerstritten und in dem die Landesgrenzen ständig hin- und hergeschoben wurden. Ein Landstrich, dessen Geschichte also ebenfalls in verschiedenen, zeitlichen Etappen erzählt werden muss.
Die gewählten Figuren – die geschichtenerzählende Alte, der totunglückliche Säufer, die Pilze der Region – wirken wie zeitlose Archetypen, die es in den Dörfern des Riesengebirges wahrscheinlich schon seit seiner Besiedlung (die Pilze natürlich auch schon eher!) und unter jeder Landesflagge gegeben hat.
Autobiografische Scherbenstücke
Olga Tokarczuks Sprache ist detailgetreu, jeder Charakter in ihrem Roman wird genau studiert und beschrieben. Mit dem Begriff „Taghaus, Nachthaus“ macht die Schriftstellerin klar, dass sie sich nicht nur auf die Handlungen und die Worte ihrer Protagonisten bei Tag konzentriert, sondern ihre Mitmenschen auch über deren Träume kennenlernen möchte. So ist auch das Träumen der Menschheit und eine Systematisierung der unterschiedlichen Traumwelten ein Erzählfaden, den die Autorin immer wieder aufgreift. Der Roman wirkt, als gehe es Olga Tokarczuk darum, die Seelen ihrer Hauptfiguren zu begreifen und vorzustellen. Da all diese Personen-Analysen zugleich auch Interpretationen darstellen, bilden diese wie kleine Scherbenstücke wirkenden, autobiografischen Darstellungen auch Spiegel der Gedanken der Autorin über ihre Nachbarn und ihre Umgebung. So schaut die Ich-Erzählerin schließlich in diese Welt der vielen verschiedenen Spiegelscherben wie in das Kaleidoskop ihrer eigenen Gedanken, in einen schillernden Spiegel ihres eigenen Selbst.
Fazit
Das grandiose Erzählwerk ist ideal für tolerante, weltoffene Leser mit einem Faible für Psychologie, Philosophie, Mythologie und Mystik. Da eine Rezension auch immer die Meinung des Lesers birgt, will ich hier kurz bekennen, dass meine Toleranzgrenze erreicht war, als ich auf die Erzählung über die Pilzvergiftung eines Kindes stieß, bei dem die Mutter als gedankenlose Mörderin dargestellt wurde, die ihrem Kind die tödliche Mahlzeit mit dem Kinderspruch „Ein Löffelchen für Papa, ...“ aufdrängt, während der Vater an der Front kämpft (die Telegramme über den Tod des Kindes erreichen ihn nicht ...) Gekrönt wird diese Episode mit einem Rezept für „Knollenblätterpilz in Sahne“. Wäre ich beim Lesen Straßenbahn gefahren, dann hätte ich das Buch nach dem Lesen dieser Stelle in der Bahn vergessen, damit es ein anderer Leser finden kann, der aus den kurzen Episoden einen inspirierenden Gedanken schöpfen kann oder seine eigene Schmerzgrenze erkennen muss. Bis es von dem idealen, noblen Leser gefunden wird, der es entzückt als seinen Schatz nach Hause trägt und immer wieder zum Lesen hervorholt. Denn so einen Leser hat dieses großartige Werk verdient.
Über die Autorin
Olga Nawoja Takarczuk, 1962 im polnischen Sulechów (deutscher Name: Züllichau) geboren, arbeitet nach dem Studium der Psychologie auch als Schriftstellerin. Nach diversen Umzügen lebt sie heute in Breslau, zieht sich jedoch nach Angaben ihres Verlages zum Schreiben in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur rückwirkend für das Jahr 2018, der zuvor wegen diverser Querelen nicht vergeben worden war.
Olga Tokarczuk, Taghaus, Nachthaus, erschienen Ende 2019 Im Kampa Verlag (Erstveröffentlichung 1998 auf polnisch), 384 Seiten, 24,00 Euro